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Die Eremitin

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I

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Vor ihr breiteten sich die Berge aus, weit, weiss und erhaben.

Es war Winter – hier war immer Winter. Es war bitter kalt, sie war warm eingepackt in ihre Pelze, ihre Augen funkelten, ihr Herz glühte.

Wie wunderschön alles war……...endlich…..

Die Luft war klar und rein, ihre Schneeschuhe verhinderten, dass sie bis zu den Waden einsank in das kalte Nass.

 

Sie hatte dieses vorbereitet, ein Traum seit uralter Zeit, wie ihr schien.

Freundschaften hatte sie vorsichtig gelöst, ihren Kindern das Erbe vorzeitig ausbezahlt – sie war froh, gegangen zu sein, bevor ihr erster Enkel geboren wurde, wer weiss, ob sie sich sonst hätte lösen können.

 

Wohlhabend war sie gewesen, eine behütete Kindheit und ausgezeichnete Ausbildungen hatte ihr zu Kontakten verholfen, sie war eine gute Ärztin geworden und hatte Freude daran gehabt. Später war sie in die Forschungsabteilung gewechselt und damit war eine Leidenschaft von ihr wahr geworden.

Sie konnte beobachten, wie sich was wann unter welchen Umständen verhielt und entwickelte, der Direktor der Abteilung hatte sich ihretwegen scheiden lassen, sie hatten eine Familie gegründet., Kinder bekommen, schaffte es, die Kinder grosszuziehen und weiterhin zu arbeiten. Sie war so glücklich gewesen……

 

Und doch hatte irgendetwas in ihr genagt, heimlich, leise, stetig. Es war der Schmerz dieses Nagens, dass sie befähigt hatte, all das zu schaffen. Hier war der Antrieb gewesen, das Menschenunmögliche zu leisten: Karriere, Kinder, sie schrieb und publizierte wissenschaftliche Arbeiten, hielt Vorträge im In- und Ausland, hielt Vorlesungen und leistete auch immer wieder in Krisengebieten ihren Beitrag. Wie sollte jemand, der nicht in der Not Erfahrungen sammelte, am Mikroskop wissen, worauf zu achten war?

 

Woher sie die Zeit nahm für ihre Kinder wusste sie selber nicht. Es war wenig Zeit – aber sie war immer im Augenblick zu Hause. Das bedeutete, wenn sie mit ihren Kindern zusammen war, war sie es ganz. Sie war immer, was sie war, ganz und gar, vergass stets alles andere darüber.

 

Dann hatten die Träume begonnen. Anfangs hatte sie gedacht, sie sei überarbeitet und könnte deshalb nicht mehr schlafen. Aber das war nicht der Grund. Es waren immer dieselben Träume: sie ging durch eine Schneelandschaft, es war kalt und sie war vollkommen alleine. Nie war etwas anderes. Immer nur Kälte, Einsamkeit, Berge und Schnee. Jahrelang. Und Augen – sie sah auch manchmal ein Gesicht, blaue, durchdringende Augen mit einem kleinen Lächeln darin, sie fühlte Vertrautheit.

Es war wie ein Sog über Jahre hinweg gewesen, es hatte gelockt, gedrängt, gefragt, es hatte sich wie Sehnsucht angefühlt. Etwas oder jemand sehnte sich nach ihr.

Und irgendwann gab sie nach.

 

Die Kinder waren erwachsen geworden, Ihr Mann tot, ihre Forschungen waren legendär, sie hatte keine neuen Projekte mehr begonnen, für die Krisengebiete hatte sie sich irgendwann zu alt gefühlt. Ihr war die Welt zu gross, zu unsicher, zu gefährlich geworden.

Eines Tages hatte sie in einem Reiseprospekt ein Bild gesehen, eine Landschaft, die derjenigen ähnelte, die sie in ihren Träumen immer sah: eine Hochebene in den Bergen des Himalaya – dort, wo nur noch Yaks und einige tibetische Familien sich aufhalten können, geübt im Klettern, kräftig im Tragen von Lasten, und begnügsam. Ein kleiner, verkümmerter Baum trotzte Wind und Schnee.

So war sie einfach gegangen, hatte einen warmen Schlafsack, ein kleines von der Sonne beheizbares Zelt mitgenommen, einige Bücher eingepackt. Sie hatte einen Brief an ihre Familie gut sichtbar auf den Tisch gelegt und sich auf den weiten Weg gemacht.

Führer hatten sie bis hierher gebracht – sie hatte sie fortgeschickt, als der Morgen zu grauen begonnen und die Sonne den Schnee rosa zu färben begonnen hatte.

Sie hatte Nahrung für drei Tage bei sich, freundliche Menschen hatten ihr die Richtung gezeigt, in der mit viel Glück nach zweieinhalb Tagen ein kleines Kloster zu finden war. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass kein Schneesturm ihr Weiterkommen boykottieren würde.

 

Die Träume waren intensiver geworden – zu den leuchtenden blauen Augen war ein Mund gekommen, ein sanftes, starkes Lächeln und manchmal eine warme Stimme, sie vermochte nicht zu sagen, ob es eine weibliche oder eine männliche war. Sie verstand nicht, was die Stimme sagte – aber sie fühlte sich genährt, gekräftigt, und das Empfinden, das etwas auf die wartete, dessen Bedeutung weit über Lebenswichtige hinausging.

Dass das Gesicht in ihren Träumen deutlicher wurde, die Stimme hinzugekommen war, schien ihr zu zeigen, dass sie ihrem Ziel näher kam.

Wenn sie schlief, sprach diese Stimme zu ihr in einer Sprache, die sie nicht verstand. War sie wach, sprach sie selber, leise, in Gedanken, mit Bildern, zeigte, dass sie näher kam, fragte, wie sie fand, wonach sie suchte.

Jetzt stand sie hier, ihre vor Kälte rote Nase schnupperte in der klaren Winterluft. Sie konzentrierte sich auf de Landschaft, in der sie stand, vor allem eine Bergspitze in der Ferne schien ihr bedeutsam. Sie versuchte, dem Gesicht in ihren Träumen, diese Bilder zu übermitteln – und empfing, mit einer untrüglichen Sicherheit: „Geh den Farben der Sonne entgegen.“

 

Sie dachte nach. Es hatte nicht geheissen“Geh der Sonne entgegen“ - dann hätte sie immer nur weiterwandern müssen, das Gesicht der Sonnen zugewandt.

Es hatte geheissen „Geh den Farben der Sonne entgegen.“

Was waren die Farben der Sonne? Gold? Gelb? Orangerosaroter Himmel?

Nein – die fühlte, das etwa anderes gemeint war: die Farben, die die aufgehende Sonne in den Schnee malte, in den Schnee, nicht in den Himmel.

Wollte sie den richtigen Weg finden, durfte sie nicht in den Himmel schauen, sondern vor sich auf die schneebedeckten Fels zu ihren Füssen.

Das gefiel ihr.

Sie blieb, wo sie war, baute ihr kleines Zelt auf, mithilfe eines winzigen Ölöfchens machte sie sich Buttertee – er schmeckte sehr eigenartig, aber sie konnte sich kaum eine bessere Energiezufuhr vorstellen, als heissen Tee mit Tierfett. Der Nachmittag verging, sie sah es an der hinter den Gipfeln langsam verschwindende Sonne. Der Mond stieg auf, weissgolden und so gross, wie sie ihn noch nie gesehen hatte und mit ihm kamen Dunkelheit und Sterne. Was für eine Weite dieser Nachthimmel hatte.

Sie kam sich vor, als hätte die Ewigkeit sie in ihre Arme genommen. Ihre Augen wurden nicht müde, dieses endlose Funkeln zu trinken.

Sie hatte Angst, zu lange zu schlafen und die Farben zu verpassen, die die schnell aufgehene Sonne in den Schnee malen würde.

Aber das war unnötig, denn es kam ein Sturm auf. Der Wind brauste zwei Tage lang über ihr kleines Zelt hinweg. Nur in den Nächten hatte sie einige Stunden Ruhe, dann machte sie ihr Öfchen an und genoss den Buttertee, mitten im sanften Fallen der leise fallenden Flocken. So vergingen zwei Tage und Nächte – am dritten Tag klarte es auf.

Sie schlief kurz und unruhig – und erwachte noch in der tiefen Dunkelheit.

Sie packte ihr Zelt zusammen, machte sich einen Buttertee, und lauschte auf die Stille, die Dunkelheit, den Schnee und die Sterne.

Langsam wurde es heller, am Horizont stieg der erste helle Schein der Sonne auf.

 

Sie stand auf und betrachte aufmerksam den Himmel über ihr und den Schnee vor sich, drehte sich immer wieder langsam um sich selber – bis sie einen orangegldenen Streifen sah. Er begann fast direkt vor ihren Füssen. Sie schulterte den Rucksack und eilte los. Je schnell sie jetzt war,um so weiter würde sie kommen, die schöne Schein würde bald verschwunden sein.

Zu ihrem Erstaunen endete er unter einem Baum, er ähnelte dem auf der Reiseabbildung – ein kleiner Nadelbaum, kaum höher als sie selber, karg und einsam lag er unter ihr, er schien aus einigen Felsvorsprüngen herauszuwachsen. Es dauerte, bis sie dort angekommen war, sie hatte einiges an Kletterkünsten aufbringen müssen, um heil hier anzukommen. Es war weiter gewesen, als sie gedacht hatte. War sie am frühen Morgen noch viele hundert Meter weiter auf den schneebedeckten Gipfeln gewesen, befand sie sich nun auf einem Felsvorsprung, grade gross genug für ihr Zelt und ihr Öfchen. Der gebogene Baum hatte den Winden getrotzt, es war einige Grad wärmer hier unten. Zu einem weiten Teil war der Fels schneefrei. Einige Meter vor sich sah sie eine kleine goldene Blume blühen, mitten aus einem kleinen Schneehaufen heraus. Sie ging hin, um sie näher zu betrachten. Und als sie sich niederkniete, erblickte sie eine kleine Öffnung zwischen den Felsen. Ihre Finger berührten den Eingang, er fühlte sich an wie Samt. Dann verschwand sie im Dunkel.

 

Ihre Kinder hörten nie wieder von ihr. Aber sie sahen viele Jahre später auf dem Einband eines Buches ein Bild, dass ihnen vertraut vorkam – und sie kauften das Buch.

Es war darin von einer Eremitin in den einsamen Bergen des Himalaya die Rede, von Güte, Klarheit und den Wundern der Liebe.

 

Ihre Mutter war alt geworden, das Haar weiss – aber die blauen Augen schienen auf dem Bild noch intensiver zu leuchten. Und die feinen Lippen lächelten so zärtlich wie nie zuvor. Es war ein wundervolles Bild, ein Gesicht voll Liebe, Frieden und Glück.

Ihre Mutter hatte zu sich selber gefunden, endlich.

 

Das Buch blieb in der Familie – aber nie schaffte irgendjemand, es zu Ende zu lesen.

Jedes Wort, jeder Satz hätte für ein ganzes Leben gereicht

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​

II

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Die ersten Jahre waren schrecklich gewesen. Kälte und Hunger hatten sie fast sterben lassen, sie war froh gewesen, dass es fast immer Schnee gegeben hatte, der sie mit Flüssigkeit versorgte.

 

Der kleine Baum hatte alle paar Jahre mal geblüht – eine Entschädigung für die erlittene Unbill. Weissrosa kleine Blüten, süss und leicht harzig duftend wurden später zu kleinen Zapfen, die sie röstete und ass. Sie schmeckten nicht besonders gut, gaben aber Kraft und Zuversicht.

Die Blumen blühten etwa neun Monaten im Jahr hindurch, leuchteten immer wie die Sonne selber, bei jedem Wetter.

Die Felsen hielten die heftigsten Winde ab von ihr, sie sah Schneegestöber meist nur von unten. Die Höhle war überraschend trocken, und viel wärmer, als von aussen zu vermuten war.

 

Mittlerweile hatte sie Frieden gefunden. Als ihr Körper begonnen hatte, sich an das harte Dasein zu gewöhnen, war ihre Seele ruhig geworden. Sie hatte dann mit dem begonnen, zu dem sie hergekommen war: Die Liebe zu finden, die Einzige, die Ewige.

 

Erst Stunde um Stunde, dann Tage, dann Wochen sass oder lag sie regungslos. Wilde Tiere, die vor Kälte, Einsamkeit und Stürmen flohen, suchten Schutz in der Höhle, erkannten sie kaum als lebendes Wesen und schon gar nicht als Gefahr. Sie schmiegten sich an sie, wärmten sie, hinterliessen ihre Ausscheidungen (die ihr als Brennmaterial dienten), manche hauchten hier ihr Leben aus, und wurden so für sie zur Nahrung.

 

Ihr Körper war schmal geworden, aber das wusste sie ebenso wenig, wie sie das Leuchten ihrer Augen ahnte. „Himmelsauge“ nannten die wenigen Fremden sie, die sich hierher verirrt und schon bald wieder gegangen waren. Einer hatte versprochen, ein Buch über sie zu schreiben. Sie hatte nur gelacht, ein kicherndes Lachen, wie sehr kleine Mädchen es haben, er war entzückt gewesen und dieses Lachen noch Jahre später in seinen Träumen gehört.

 

Sie wusste nicht von alledem, Kriege, Zusammenbruch von Reichen, Errichtung und Verfall von Demokratieen und Diktaturen gingen an ihr vorüber. Ab und zu erfuhr sie von Einigem, beweinte die Toten, segnete und tröstete sie – und versank wieder in Schweigen.

 

Ihre Seele flog Welten ab auf der Suche nach Liebe.

Und sie fand sie – ihr Liebster leuchtete wie die Sonne, er hatte gelitten ohne sie, so, wie sie einsam gewesen war, bis sie ihn fand.

Sein goldenes Haar überstrahlte die Sonne und schmeckte süss – wenn er kam, duftete es nach Honig mitten im Schnee. Einmal lag eine rote Rose vor dem Höhleneingang, woher sie kam, erfuhr sie nie. Sie blühte und duftete viele Wochen lang.

Zu anderen Zeiten hatten sich Kolibris in ihr kleines Tal verirrt…...sie umschwirrten sie, wie man um eine Blüte herumtanzt. Sie wusste nicht, dass es mittlerweile ihr Körper war, der sanften Honigduft verströmte.

 

Sie war in Versenkung, nur selten kam sie zurück in ihren Körper, er war ihr mehr Fessel als Freude. Es schmerzte sie jedesmal, wenn sie ihn wieder betrat – und meistens waren es Hilferufe, die sie zurückkehren liess.

Immer, wenn es eine schneefreie Zeit gab, kamen Menschen, um sie zu befragen. Sie hörte nie die Fragen, sie hörte gar nichts mehr. Aber sie sah, wo es Not tat – oft wussten die Ratsuchenden es selber nicht.

Dem einen empfahlt sie bestimmte Nahrung, oder den Verzicht auf sie – und er fand, wonach er nie gesucht andere.

Anderen gab sie Übungen auf, für einen bestimmten Zeitraum durchzurühren, und befreite so Seelen zum freien Flug.

Wieder anderen sah sie nur in die Augen, begrüsste ihren Liebsten in ihnen, und sah, wie Schmerz und Kummer tauten und fortflossen wie Schnee im Frühling.

 

Sie fühlte, was die anderen nicht fühlten unter ihrem Schmerz, ihrer Sehnsucht, ihrer Trauer: Glück, Seligkeiten, Frieden, Stille.

 

Sie gab es nicht mehr – sie war nur eine Erscheinung in den Augen der anderen geworden. Der Liebste hatte sich ihres Körpers, ihrer Gefühle, ihrer Augen, Ohren und Händen bemächtigt. Und sie sah, hörte, fühlte und berührte, was er sah, hörte, fühlte und berührte.

Ihre eigene Seligkeit hatte sich zu einer unauflöslichen Einheit verbunden mit seiner Zärtlichkeit.

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