top of page
Button2.PNG

Das Lichte Land

 

​

Sie sass auf den Stufen des zerfallenen Schlosses und sah in die Ferne. Alles um sie herum war zerfallen, es sah aus, als wären Vandalen hindurchgezogen. Sie war von weit her gekommen, ohne Richtung, ohne Ziel zu Anfang, wenngleich mit einer grossen Sehnsucht.

Sie hatte Ihr Innerstes verloren, ihren Schatz, ihren Liebsten, ohne den sie nicht leben konnte und ohne den sie selber verloren war.

So war sie also, als Verlorene, gezogen durch Länder, Städte, Kontinente, durch Wüsten und Meere auf der Suche nach dem Geliebten, nach sich selber – so genau konnte sie das nicht unterscheiden.

Wer vermag schon zwischen seinem Herzen und dem des Geliebten eine Trennlinie ziehen?

 

Dieses Schloss hier war ihr vertraut – irgendwas erinnerte sie daran an den Ort ihrer Kindheit. Einst musste es schön gewesen sein, das Schloss, glänzend hatte es etwas hergemacht, die Bewohner darin konnten stolz gewesen sein und eitel, auf den Schein mehr bedacht als auf die Güte des Herzens. So sahen jedenfalls die Stucks an den Wände aus, die verfallenen Säulen, die wunderschön gearbeitet waren, aber mit Fratzen verziert. Ab und zu sah sie irgendwo eine kleine Engelsfigur – aber auch sie mit verzerrtem Lächeln. Alles schien hier zu leben, jeder Stein atmete, jede eingehauene Figur schrie nach Erlösung.

Sie atmete schwer, stand auf und ging an den Stadtrand. Die kleine Stadt stand auf einer Erhöhung, so dass sie gut in die Ferne sehen konnte. Es lagen Wolken über der Stadt, kein Wind regte sich, um sie zu vertreiben. Es war düster, sie fror. Weit in der Ferne sah sie Sonnenlicht und ihre Sehnsucht machte sie weinen. Wie schön es dort sein musste – in der Sonne, in der Wärme. Die Farben, die sie von Weitem wahrnahm, waren goldgelb, Silber und Türkis. Ob da der Liebste, ihr Herz, auf sie wartete?

Plötzlich fühlte sie, dass jemand neben ihr stand. Sie sah ihn nicht, fühlte aber eine sie wärmende Gegenwart. „Lichtes Land“ hörte sie und wusste, es war das Land gemeint, dass sie in der Ferne sah.

„Komm“, hörte sie – und wusste, sie würde geführt werden in das Land, dem ihre Sehnsucht galt. Sie wandte sich um. So lange hatte sie in Schutt und Asche gelebt, war heimatlos durch die Gegenden gezogen, hatte gehungert, gefroren, Gewalt erlitten und ausgeübt.

 

Sie stand auf und ging – mit dem, der sie unsichtbar führte, dem ihr Herz, wie sie fühlte, galt und immer gegolten hatte. „Schau Dich nicht um“, sagte er und sie gingen. Ihr Herz wurde immer schwerer, je weiter sie gingen. „Das geht vorbei“, sagte er, „Gib nicht auf, geh weiter, es wird leichter werden.“ Aber Stein für Stein ruhte die Stadt auf ihr, vor allem das Schloss. „Erlösung“, hörte sie die Rufe. „Ache nicht darauf, sagte er, „Sonst verlieren wir uns. Sonst verlierst Du Dich erneut, noch bevor Du bei Dir angekommen bist – und bei mir.“ Ihre Schritte wurden schwer, sie schleppte sich vorwärts. Mittlerweile hatte die Sonne vom Himmel zu brennen begonnen. Sie war müde und wollte nur noch schlafen. „Warte auf die Nacht“, sagte er, „dann wird der egen kommen“. Wie Recht er doch hatte – es kam Regen auf, kühlte den Leib, die Gedanken und erfrischte die Seele. Und immer noch hörte sie die Rufe nach Erlösung, wenn auch leiser schon. Trotzdem quälten sie Schuldgefühle.

„Sie gehen Dich nichts mehr an, die da rufen.“ sagte er. Und sie gingen weiter.

Ihre Füsse bluteten, ihr Herz ebenso – wie verlassen jetzt die waren, deren Rufe sie mittlerweile nicht mehr hörte. Sie hatte sie verlassen – und die Abwesenheit der Rufe quälte sie fast mehr, als die Bitten selber. Er hatte zu schweigen begonnen, neben ihr. „Bitte gib nicht auf“, hörte sie ihre Gedanken zu ihm rufen. „Halte mich, trage mich hindurch, bevor ich umkehre“.

„Jeder hat seinen eigenen Weg“, sagte er. „Du hast Deinen, die Toten den ihren, Schutt und Asche wiederum einen anderen. Geh den Deinen – nicht denen der Toten. Sie begraben sich selber.“ Er klang traurig, fand sie.

Das Lichte Land war näher gekommen, sie fühlte neue Wärme in der Luft und Leichtigkeit überkam sie. Er schwieg öfter und länger – aber seine Arme fühlte sie, die sie umgaben wie ein Mantel. Sie dachte an die Stadt – wie fern sie war, wie fern die Qualen derer, die dort noch existierten in welcher Form auch immer. Sie fühlte sich leichter, vergnügter und weniger schuldbeladen. Es war ein Lebensgefühl, dass sie nicht kannte, das ihr fremd war. Ein Lächeln neben ihr besagte, dass alles genau so seine Richtigkeit hatte. Und er war nicht mehr unsichtbar, er war ein Schemen geworden, dass sie sehen konnte. „Es sind Deine Augen, Dein Blick, der sich verändert, Liebste,“ sagte er. „Ich bin immer gewesen wer und wie ich war.“ Jetzt erst, als sie sein Lachen hörte, wusste sie, wonach sie sich gesehnt hatte. In ihrer Kehle gluckste es. „Warst Du immer da?“ fragte sie - „Immer,“ sagte er, „in jeder Stunde, in allen Leben, wenn Du gelitten hast, und wenn Du fröhlich warst.“ Sie sagte nichts mehr vor Rührung und Erschütterung. „Warum Du mich nicht wahrgenommen hast?“, er griff ihre Gedanken auf. „Ich habe das versucht, immer wieder – aber Du hingst so sehr an den Leben. Du wolltest immer jemanden retten, nur nicht Dich selber. Du trugst alle Lasten, die Dir auferlegt wurden, bereitwillig – und wehrtest Dich nicht, verlorst dabei Dich (und unsere Liebe) aus den Augen. Und erreicht hast Du gar nichts. Niemandem hast Du wirklich geholfen, wenn Dir auch ein wenig Ansehen zugekommen sein mag. Aber was bedeutet Ansehen schon gegen das Licht der Seele, das alles durchströmt, was die Augen ansehen?“

 

Sie waren dem Lichten Land nahe gekommen und standen jetzt vor einer für sie unsichtbaren Schranke. „Entscheide Dich. Jetzt.“ sagte er. „Geh durch die Mauer hindurch oder kehre um. Du wirst nur weitergehen können, wenn Dein Herz unbelastet ist. Nur das Leichte besiegt das Schwere.“

Sie stand da, erinnerte sich an das Schloss und die Fratzen, die verzerrten Engelsgesichter, die Rufe nach Erlösung, ihrer langen Irrfahrten. Dann hob sie den Kopf und durchbrach mit entschlossenem Gesicht die unsichtbare Barriere.

Und zum ersten Mal seit langer Zeit sah sie ihm in die Augen, in denen das Lichte Land funkelte wie tausend Edelsteine.

Button 1.PNG
bottom of page