top of page
Button2.PNG

Der Meister

 


Er atmete, und er betete; also lebte er. Bei diesem Gedanken kicherte er, er wenig irre, was die Umstehenden irritierte, einige sahen sich nach ihm um.
Ein grosses Gehetze und Gedränge war auf der Strasse, wie in Großstädten heute so üblich. Sogar die, die Zeit und Musse hatten, hetzten von Laden zu Laden, von Schaufenster zu Schaufenster, von Gespräch zu Gespräch. Sie schoben und drängten, lachten und schwätzten und lärmten, ein paar Junge tobten und pöbelten. Und mittendrin stand er, versperrte allen den Weg, er stand einfach da und schaute: ein mageres Gerippe, an dem ein paar Fetzen hingen, die irgendwann einmal Kleider gewesen sein mochten.
Die Augen waren hell und vergnügt, so, als hätten sie noch nie etwas anderes als Freude gesehen. Er war leicht vornüber gebeugt, das einzige Zeichen, dass er nicht mehr ganz jung war, man konnte ansonsten sein Alter nicht schätzen. Die Haare waren glatt und vollkommen schwarz, die Sandalen an den Füssen schienen mehr durch Gefälligkeit zu halten als durch die Stabilität der Riemen. Er trug nichts bei sich, keinen Rucksack, keinen Plastiksack, gar nichts.
Er stand da, schaute vergnügt um sich herum und kicherte ab und zu.


„Hast Du Hunger?“, fragte ein junges Mädchen ihn ein wenig schüchtern. Er sah sie an, wie man jemanden ansieht, der für einen die ganze Welt bedeutet. „Ich bin satt, danke Dir,“ erwiderte er freundlich. „Wenn ich all das um mich herum betrachte, muss ich sehr aufpassen, nur das zu mir zu nehmen, was mir bekommt.“ Sie machte grosse Augen. „Was meinst Du?“ „Schau, Du denkst vielleicht, dass nur das Nahrung ist, was Du durch Deinen Mund in Dich aufnimmst. Aber das ist nur ein Teil, sogar nur ein kleiner, dessen, was Nahrung ist. Schau Dich um.“ Sie tat es. „Was siehst Du? Lass Dir Zeit. Beschreib es mir – und vor allem, was du dabei empfindest, bitte.“ Sie hatte eigentlich gar keine Zeit, sie war verabredet mit einer Freundin, sie wollten shoppen gehen. Aber etwas hielt sie fest, hier, bei diesem seltsamen Mann, der so verrückt aussah, wie einem Irrenhaus entsprungen oder wie ein Obdachloser. Zumindest schien er nicht betrunken zu sein, im Gegenteil. Er sah sie nicht nur sehr freundlich an (ach, hätte ihr Vater sie nur ein einziges mal mit solch einer Freundlichkeit angesehen!), sondern so, als würde er irgendetwas von ihr erwarten, was nur sie konnte. Irgendetwas traute er ihr zu. Er wollte, dass sie etwas herausfand. Sie holte tief Atem und konzentrierte sich. „Hier sind viele Leute. Und es ist laut. Das ist mir noch nie aufgefallen. Meine Güte, was für ein Krach. Und so viele Menschen – welch ein Gedränge. Und wie sie alle hetzen. Haben wir alle so wenig Zeit?“ - „Mach weiter, geh noch tiefer,“ bat er, und sie hatte den Eindruck, dass er sich freute. „Farben“, jetzt begann sie zu flüstern, wusste nicht mehr, ob sie zu ihm oder mehr zu etwas in sich selber redete, „so viele Farben, so bunt ist alles. Aber es passt nicht zusammen. Die Farben haben die Sonne verloren.“ 'Die Farben haben die Sonne verloren.'? Was war das denn für ein Satz? So einen Satz hatte sie noch nie gehört, geschweige denn selber gesagt. Wurde sie auch schon verrückt? „Nein, Du wirst nicht verrückt,“ beruhigte der Alte sie, und sein Lächeln leuchtete, dass ihr das Herz aufging. „Etwas in Dir, das bis jetzt geschlafen hat, erwacht. Mach weiter, geh noch tiefer.“ Sie räusperte sich, schloss die Augen ohne den Grund dafür zu kennen. Sie hatte das Gefühl, ganz plötzlich, die Augen schliessen zu müssen, um besser sehen zu können. „Ich rieche etwas – sind das die Linden? Aber sie werden fast überdeckt von den vielen Deos und Rasierwasser – wie schade. Ich fühle Wärme auf meiner Haut – ist das die Sonne? Und der Boden unter meinen Füssen, es ist Asphalt, aber es fühlt sich gut an, fest.“ Sie öffnete wieder die Augen. Plötzlich war sie müde geworden.
„Siehst Du, so ist das mit der Nahrung. Wenn ich mich jetzt auf den Boden unter meinen Füssen, den Duft der Linden und die Sonne auf meiner Haut (und noch ein paar anderen Dingen) innerlich einstelle,kann ich davon fast satt werden. Allerdings muss ich dazu sehr viel anderes ausblenden, sonst wird mir wirklich übel und ich muss erbrechen.“ Er strahlte sie an, voller Liebe und Stolz – er sagte nichts, aber sie wusste, dass er sehr zufrieden mit ihr war. „Wo wohnst Du?“ frage sie. „Hier“, antwortete er und deutete auf seine Brust. Sie war ganz irritiert. „Hast Du keine Wohnung? Keinen Ort?“ - „Ich habe keine Wohnung. Ich habe keinen Ort. Und ich wohne und lebe überall.“ Seine Armbewegung dazu war umfassend vage. „Ich heisse Kerstin“, sagte sie und hielt ihm ihre Hand hin. Er ergriff sie, wie man eine Kostbarkeit anfasst. „Man nennt mich Johannes“, erwiderte er, drehte ihre Hand um und betrachtete einige Sekunden lang ihre Handfläche. Dann liess er sie fallen. „Was hast Du da grad gesehen?“ Sie war neugierig geworden. „Kannst Du aus der Hand lesen?“ Eine Sekunde sah er sie schweigend an – wie vertraut ihr mittlerweile dieser Blick schon war. Dann nahm er wieder ihre Hand und legte die seine daneben – zwei Handflächen, eine grössere, gröbere, eine kleinere, zartere. „Sieh selber“. Sie war verblüfft. Wie ähnlich sich die beiden Handflächen doch sahen. Gut, ihrer fehlten
einigen Linien, andere waren weniger ausgeprägt - aber eine Linie war sogar vollkommen gleich mit seiner. Andere – sie trauten ihren Augen nicht. War da Bewegung? Wurde sie irre? Die Linien seiner und ihrer Hand begannen sich zu bewegen, sie glichen winzig kleinen Schlangen, die ein wenig sich regten, räkelten und dann wieder still verharrten, bis sie nichts weiter waren als – Linien. Und jetzt
sahen beide Handflächen absolut identisch aus, bis auf dass ihre Linien feiner, zarter und weniger ausgeprägt waren als seine.
Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und sah ihn an. Seine Augen waren voller Fürsorge und Treue, jetzt war nichts mehr von dem in ihnen, was sie zuvor als Verrücktheit empfunden hatte. Es war reinste Klarheit in ihnen, sie schimmerten wie Kristalle.
Dann lächelte er, und alles war wieder wie vorher. Es war wieder laut um sie herum, Hektik, Geschiebe und Gehetze. Sie standen mitten auf dem Bürgersteig, alle anderen mussten sich den Weg um die beiden bahnen, die alles um sich herum vergessen zu haben schienen. Kerstin lachte. „Ich glaube, wir stehen im Weg. Wenn Du möchtest, kann ich uns etwas zu Essen machen. Allerdings müssten wir noch ein wenig laufen, bis wir bei mir sind.“ Johannes nickte. Er drehte sich einmal um seine eigene Achse und lief dann neben ihr her, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt, und als habe er nichts anderes erwartet. Und vielleicht hatte er das auch gar nicht. Als sie an einem Lebensmittelladen vorbeikamen, wollte Kerstin noch einkaufen gehen.
„Es reicht, was Du zu Hause hast,“ sagte Johannes. Sie schaute ihn erstaunt an. „Du weisst doch gar nicht, was ich daheim habe!?“ War er hellsichtig? „Es ist ganz egal, was Du zu Hause hast, es wird in jedem Fall ausreichend sein,“ schmunzelte er. Kerstin war völlig irritiert. Sie hatte es gerne schön. Sie kochte sehr gut und wusste genau, was sie zu welchem Gericht gern anbot, was zusammen passte und schmeckte. Ihr war gar nicht wohl bei dem Gedanken, irgendetwas zusammenwürfeln zu müssen. „Ich werde kochen,“ sagte er. Er schien dabei ganz in Gedanken versunken zu sein.
Die meisten Menschen achten nicht aufeinander. Dazu haben sie zu wenig Zeit und sind auch zu sehr mit sich selber beschäftigt, das Leben verlangt den meisten zu viel ab. Für die wenigen, die Augen im Kopf hatten, und diese auch zu nutzen bereit waren, bot sich ein seltsames Bild, wenn sie einen flüchtigen Blick auf diese beiden so unterschiedlichen Menschen warfen.
Eine sehr junge und sehr schöne Frau, höchstens Mitte zwanzig, grazil und mit eleganten Bewegungen, ein wenig ausgefallen und geschmackvoll gekleidet, wurde begleitet von einem vergammelten, zerlumpten Mann, der entwaffnend unbekümmert erschien, dunkle Haare, helle Augen, das Alter war unmöglich zu bestimmen.Einen Bettler oder Obdachlosen erkennt man, ohne dass man es realisiert, daran, dass er eine bittende, unterwürfige Lebenseinstellung signalisiert, manchmal gepaart mit latenter Gewaltbereitschaft. Man fühlt sich überlegen – und ist vorsichtig.
Diese lumpenbekleidete Gestalt mit ihrer ganzen Selbstverständlichkeit des Da-Seins verunsicherte die Umstehenden, weil ihm alle Unterwürfigkeit fremd zu sein schien. Er schien harmlos, wirkte sogar anziehend, das irritierte so. Seine Fröhlichkeit war umwerfend. Irgendetwas an ihm, das man nicht greifen konnte, liess bei seinem Anblick eine bis dahin unbekannte Sehnsucht wach werden – und man
wünschte sich, er könnte einem sagen, wonach.
Bei Kerstin angekommen benahm Johannes sich, als sei er hier zu Hause. Er fand sich spontan zurecht, für Kerstin gab es nichts anderes zu tun, als in zwanglosere Kleidung zu schlüpfen. Als sie wieder in die Küche kam, wartete schon eine Tasse heisser Tee auf sie, irgendetwas brutzelte in der Pfanne und köchelte in einem kleinen Topf vor sich hin. Er bewegte sich schnell, leise und zielgerichtet, dabei
schienen seine Augen ständig alles im Blick zu haben, und sie hatte den Eindruck, er lauschte – worauf?
Aus dem frischen Gemüse und den Kartoffeln hatte er zur Vorspeise einen etwas merkwürdigen, aber sehr wohlschmeckenden Salat zubereitet, danach gab es eine Kartoffelsuppe und dann den tiefgefrorenen Fisch, aus dem sie schon länger nichts anzufangen gewusst hatte. Zu alledem hatte er Fladenbrote gemacht. Er hatte eine seltsame Art und Weise zu würzen, aber es schmecke ihr vorzüglich. Sie assen, bis sie nicht mehr konnten, redeten, lachten, schon lange hatte sie keinen so vergnüglichen Abend mehr gehabt. Zwischendurch rief sie noch schnell ihre Freundin an, die sie zum Shoppen versetzt hatte und erfand eine Entschuldigung.
Später meditierten sie, er nannte es „entspannen“. Von „meditieren“ hielt er nicht viel, wie er so nebenbei erklärte. Das führte seiner Ansicht nur dazu, dass die Leute viel Aufhebens um Dinge machten, die es nicht Wert waren, und dabei die wirklichen „Wunder“ übersahen.
Sie musste sich entspannt hinlegen, wie sie es mochte, er bat sie nur, es sich gemütlich zu machen. Also kuschelte sie sich in ihren Sitzsack, was eher einem Herumlümmeln glich, er glitt, ehe sie es sich versah, in einen geschmeidigen Kopfstand, seufzte erleichtert auf. „Das habe ich sooooo vermisst,“ sagte er, strahlend und versank in einen Zustand von Seligkeit, den sie nicht mit belanglosen Fragen unterbrechen mochte. Sie schloss einfach die Augen, genoss seine Gegenwart und liess sich fallen.
Was dann geschah, hatte sie nicht erwartet. ER begegnete ihr, ER, auf den sie schon so lange gewartet hatte, ER, den sie vermisst hatte so viele Leben, so viele ihrer Körper hatten gedürstet nach IHM. Nun stand er plötzlich vor ihr und lachte sie an mit dem Lächeln, dass sie so liebte. Es war kalt, angenehm, die Berge dufteten würzig, wie sie es immer taten, kurz bevor der Frühling kam. Es war dieser Duft, der sie nie verlassen hatte. Der Schnee glitzerte in der Sonne, die schönen Augen des Büffel glänzten vor Liebe. Wie hatte sie geweint, als er starb, Yuma, der liebste Gefährte auf der Erde, der weisse Büffel, der getragen hatte durch Kälte, Schnee und Wind, durch Hunger und unwirtlichstes Gebiet. Später war sie neben ihm gegangen, hatte ihm ihre Last erspart, er hatte genug an sich selber zu tragen und dem wenigen, was sie mit sich führte: einige Schalen, ein wenig Butter und Salz, ein bisschen getrocknetes Fleisch, das bald aufgebraucht sein würde. Dann würde das Salz, die Butter und der Schnee genügen müssen für einige Monate, ihr zumindest. Das Tier würde scharren und sehen, wie es auskam mit dem, was unter dem Schnee zu finden war an Kräutern und Gras.
Eines Morgens war er fort gewesen. Sie hatte ihn weitab der Höhle in der sie hauste, gefunden, tot, erhatte sich einfach hingelegt und war gestorben. Sie hatte in einem Traum ihn noch gesehen – aber da war er kein Büffel gewesen, sondern ein Mann, mit demselben liebevollen Ausdruck in seinen Augen, derselben unverbrüchlichen Treue. Sie hatte es nur nicht verstanden, zuerst. Aber dieser Mann hatte ihr Herz gewonnen, so, wie vorher das Rind – sie waren ja dasselbe gewesen. Seitdem suchte sie ihn, in jedem ihrer Leben, auch, wenn sie es nicht wusste. Etwas in ihr wusste, sie würde ihn an dem würzigen Vorfrühligsduft wieder erkennen, der ihn umgab, wenn sie ihn traf. Sie selbst aber vergass dies. Jetzt war er da: zierlich und schlank stand er vor ihr, den wilden Haarschopf hochgebunden, die ruhigen Augen schienen wie von weit her zu kommen, sie waren bernsteinfarben, es blitzte wie Gold darin, ab und zu. Er war vollkommen unbekleidet – und doch umgab ihn eine Ausstrahlung, dass niemand ihn nackt hätte nennen können. Sein „Kleid“ waren Würde und Anmut, eine unvorstellbare Präsenz, Kraft, Klarheit und ein Friede, der weit um ihn her reichte. Er reichte ihr ein kleines wildes Sträusslein von grünen Pflänzchen. Er hielt es ihr hin, wie man einer Geliebten einen Strauss wilder Rosen hinhält:
Angebot und Bitte zugleich. Sie nahm nicht das Sträusslein, sie nahm seine Hand, und führte es an ihre Nase, mitsamt den Pflänzchen – und roch den Duft: der Vorfrühling in den Bergen des Himalaya,
würzig, süss, kräftig, es ging ihr durch und durch.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie immer noch in ihrem Sitzsack, Johannes hatte mittlerweile offenbar eine Decke über sie ausgebreitet und vor allem ihre Füsse warm eingepackt. Ausserdem klapperte er leise in der Küche. Nach einer kleinen Weile kam er herein, mit einem Tablett auf dem eine Kanne dampfenden Tees stand und eine Schale mit Plätzchen, ausserdem ein Blumenstrauss – wo er den her hatte, war ihr schleierhaft.
Sie war vollkommen erschöpft, nicht weil sie sich so angestrengt hätte, sondern weil das Erleben so besonders und so Vieles unverständlich für sie war. Sie hatte ein wenig Angst, verrückt zu werden, und gleichzeitig wünschte sie sich, Ihr Erleben ernst nehmen zu können – es war so wundervoll gewesen, so real. Bei Tee und Keksen erzählte ihr Johannes etwas von die Diesseits und dem Jenseits, von der Ewigkeit der Hellen Seele, von Wiedergeburten und von der Liebe, die alle Ewigkeiten überdauert. Kerstin konnte das kaum glauben – sie sollte eine Liebesverbindung haben, seit Ewigkeiten von Leben her? Johannes nickte, ernst, liebevoll. „Ja,“ sagte er. „Das kennen nicht viele Menschen, aber einige schon. Es gibt nichts Schöneres. Ich kenne es selber.“ Sie war taktvoll genug, nicht weiter nachzufragen und war sich nicht bewusst, dass genau diese Zartheit es war, die Johannes dazu bewog, ihr sein Herz zu öffnen, wenn auch auf eine eher ungewöhnliche Art und Weise. Er beschloss, noch einige Tage bei ihr zu bleiben und sie weiter zu fördern. Sie hatte offenbar grosses Potential, nicht nur von ihrer inneren Begabung her, sondern vor allem von ihren menschlichen und charakterlichen Qualitäten. Er ahnte, wer es war, der zu ihr als Yuma gekommen war, er hatte ihn erkannt, und sein Herz wurde heiß vor Liebe und Glück. Wie konnte er sie jetzt verlassen?
So begann er sie zu unterrichten. Sie führten lange Gespräche, sie merkte nicht, dass sie lernte. Er stellte Fragen, die sie herausforderten, die konterte mit Antworten, wunderte sich, woher diese ihr kamen – in seinen Mundwinkeln breitete sich Zufriedenheit aus. Er war albern, manchmal taten ihre Bäuche weh vor Lachen, dann kamen ihr oft die Tränen, so aufgelöst war sie. Es tat ihr seltsam gut. Er zeigte ihr Körperübungen, die ihren Körper entspannten und strafften zugleich – sie fühlte sich stark werden und auf merkwürdige Weise gross. Und sie „entspannten“ immer wieder. Und stets auf Neue traf sie Yuma und erfuhr mehr und mehr darüber, wer er war und wer sie gewesen war – und welcher Art ihre tiefenund oft wechselnden Verbindungen waren. Er war ein Mann, der eine Frau liebte – und sie war die Blume, die er an seinem Herzen trug, wahrhaftig eine Blume, nicht mehr und nicht weniger. Sie war eine Frau, die einsam in den Wäldern lebte, und er eines von vielen Tieren, um die sie sich gekümmert hatte, und das einzige, das bei ihr blieb, bis es starb. Sie waren ein Mann und eine Frau, verheiratet, Geliebte bis zu beider Tod. Und immer öfter hatte eines im anderen noch etwas anderes gesehen, gehört – etwas Nicht-Menschliches, etwas Ewiges und darauf gelauscht. So waren die Ewigen zu ihnen gekommen. Sie sind entzückt, wenn sie wahrgenommen werden, und kommen sofort, wenn man sich nach ihnen ausstreckt. Denn sie sehnen sich selber.
Sie sind die Höchsten, die Ewigen, Reinen, Goldenen, und sie lieben Körper jeder Art und sind entzückt davon. Sie kennen „hoch“ und „niedrig“ nicht, wir sind es, die so unterscheiden und genau das degradiert uns schon. Die, die wir Götter nennen, unterscheiden in gar nichts. Schwarz ist für anders als Weiss, aber ebenso richtig. Eine Blüte ist für sie anders als verrottende Erde oder die Ausscheidung irgendeines Lebewesens, aber ebenso gut. Sie unterscheiden die Düfte, aber jeder ist richtig. Sie
unterscheiden Gefühle, aber alle sind gleich für sie. Denn in den Tiefen von allem ist keinerlei Unterschied. Die Unterschiede sieht nur, wer das Äussere betrachtet mit Augen Ohren und Nase. Wer in die Tiefen von allem sich begibt, den Urgrund, kennt das Wort „Unterschied“ nicht mehr.
Und - die Götter lieben das Spiel. „Spiel“ meint niemals, wie wir glauben, etwas oberflächliches, unbedeutendes, just for fun. „Spiel“ meint immer, einen bestimmten, oft klar umrissenen Teil des Lebens bis in seine tiefsten Tiefen erfassen – mit bestimmten Mitteln, Methoden, Bewegungen. Nicht die Mittel, Bewegungen, Methoden sind das Wesentliche, sind das „Spiel“ - das Erfassen ist es.
Und die Ewigen, die wir Götter nennen, spielen, es ist ihr Leben. Und – wo sollten sie es tun, wenn nicht durch unsere und andere Körper? Wo sollten sie Heimat haben, wenn nicht in unseren Herzen und Seelen? Welche Laute sollte sie sprechen, wenn nicht die unseren? Welche Geschichten sollte ich erzählen, wenn nicht die ihren?
So versenkten sich die Ewigen in die Frau und den Mann, die auch mal der Mann und die Frau und mal die Blume der Büffel und auch mal einfach ein Gedanke oder ein Wunsch oder ein Wille waren und verschmolzen mit ihnen.
Das alles geschah über Äonen, in Wellen, im grossen Hin und Her der Wiedergeburten und der endlosen Zeiten dazwischen, bis zum Höchsten, der mit dem Büffel kam; und der Ewigen, die mit Blumen und Schmetterlingen bekleidet Musik in die Welt brachte.
Das alles erfuhr Kerstin während dieser Tage und Wochen.
Als sie eines Morgens aufstand, schien ihr die Wohnung merkwürdig leer – und schnell war klar, weshalb: Johannes war fort. Er war irgendwann zwischen Nacht und frühem Morgen ganz leise gegangen. Einige wenige Zeilen hatte er dagelassen und den Ring, den sie immer an seiner Hand gesehen hatte. Es war ein Silberring mit einem goldenen Zeichen darin – es war dasselbe Zeichen, das Yuma auf seinem Amulett an der Brust trug.
Auf dem Zettel stand, neben den liebevollsten Grüssen, der Satz:


„Ich atme und bete, also lebe ich.“

Button 1.PNG
bottom of page